Raus aus der Opferrolle!

Kommentar von Martina Puschke, Politische Interessenvertretung behinderter Frauen im Weibernetz e.V.:

„Report Mainz“ hat es vorgemacht und viele Tageszeitungen tuten ins gleiche Horn: Frauen mit Lernschwierigkeiten, die üblicherweise geistig behindert genannt werden, werden in Behinderteneinrichtungen missbraucht; sie werden als wehrlose Opfer dargestellt. Ein Kommentar von Weibernetz gegen die Manifestierung der Opferrolle.

Und wie so oft hat diese Medaille zwei Seiten.

Es ist ein Skandal, dass Frauen in Einrichtungen Gewalt erfahren. Und einerseits freuen wir uns als Politische Interessenvertretung behinderter Frauen, dass dies in der Öffentlichkeit endlich wahrgenommen wird. Die Bewegung behinderter Frauen thematisiert das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen mit Behinderung seit über 30 Jahren und fordert Gegenmaßnahmen und die Öffentlichkeit nimmt das Thema nicht auf.

Andererseits würden wir uns eine differenziertere Berichterstattung wünschen. Denn nicht alle Frauen mit Behinderung leben in Einrichtungen und es stimmt wahrlich auch nicht, dass sie sich nicht wehren können!

Die erste repräsentative Studie, die von der Universität Bielefeld im Auftrag des Bundesfrauenministeriums erstellt wurde, war überfällig. In anderen europäischen Ländern belegten Untersuchungen bereits Ende der 1990er Jahren die hohe Gewaltbetroffenheit dieser vulnerablen Gruppe. Entsprechend hoch war die Hoffnung, endlich Zahlen zu erhalten, als 2004 die erste große repräsentative „Gewaltstudie“ ("Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland") erschien.

Die Enttäuschung war jedoch groß, denn Frauen mit Behinderung wurden in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt. Weibernetz e.V. und die Landesnetzwerke behinderter Frauen forderten daraufhin eine Erhebung der Daten für Frauen mit Behinderung. Die Forderung fand schließlich Gehör beim Bundesfrauenministerium.

Nun im Jahr 2012 liegen die Zahlen schwarz auf weiß für Deutschland vor.

Über 1.500 Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Lebensbedingungen wurden befragt. Egal ob sie im eigenen Haushalt oder in einer Einrichtung für behinderte Menschen leben. Alle haben vermehrt Gewalt erlebt; in der Kindheit, im Jugend- und Erwachsenenalter.

Dank der differenzierten Haushalts- und Nachbefragung einzelner Gruppen wissen wir nun, dass gehörlose Frauen besonders häufig Gewalt erfahren, in Schulen und Einrichtungen für gehörlose Menschen, aber auch von Partnern.

Wir wissen nun auch, dass blinde und mehrfachbehinderte Frauen ebenfalls sehr häufig verschiedene Formen von Gewalt erfahren.

Und Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in Wohnheimen wohnen oder beschützten Werkstätten arbeiten, haben ebenfalls ein höheres Risiko, Gewalt zu erfahren.

Wenn die Studie Ende April 2012 komplett vorliegt, werden wir sehr genau zielgerichteten Handlungsbedarf herausarbeiten können.

Eins wissen wir jedoch schon heute:

Neben allem Fortbildungsbedarf von Personal, Leitlinien in Einrichtungen und so weiter müssen Frauen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen, egal wo sie wohnen, gestärkt werden.

Die Ergebnisse der Erhebung dürfen in der Öffentlichkeit nicht dazu führen, dass die Opferrolle von Frauen mit Behinderung manifestiert wird. Vielmehr muss mit unterschiedlichen Programmen gegengesteuert werden, dass sie selbstbestimmt und selbstbewusst ihre Grenzen erkennen und wahren können.

Wie erfolgreich Frauen in Einrichtungen ihre Interessen selber wahrnehmen und ihre Kolleginnen stärken können, hat zum Beispiel das Projekt „Frauenbeauftragte in Einrichtungen“ gezeigt. In diesem wurden Frauen mit Lernschwierigkeiten für ihre Rolle als Frauenbeauftragte geschult.

Februar 2012



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