Mit der heutigen Zustimmung aller drei Koalitionspartner steht der Vertrag für die neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD.
Die Politische Interessenvertretung behinderter Frauen im Weibernetz zieht ein kurzes Fazit: Der feministische Blick in den neuen Koalitionsvertrag verrät, für die Themen im Bereich Frauen-, Gleichstellungs- und Behindertenpolitik steckt nicht viel Neues drin.
Positiv ist: Die neue Bundesregierung bezieht sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und die Istanbul Konvention und will diese weiter umsetzen. Auch die Weiterentwicklung der Gewaltschutzstrategie in einen Nationalen Aktionsplan und die Fortführung der Gleichstellungsstrategie ist zu begrüßen. Dass im Bereich der Gesundheitsversorgung auf geschlechtsspezifische Erkrankungen wie Endometriose und eine entsprechende diversitätssensible Versorgung gesetzt wird, ist ein Novum.
Weibernetz vermisst im Koalitionsvertrag hingegen: Eine Gesamtstrategie zur Umsetzung der UN-BRK verknüpft mit der Istanbul Konvention mit Änderungen im Gewaltschutzgesetz und verpflichtende Barrierefreiheit des Hilfesystems im Gewalthilfegesetz. Auch die Verpflichtung privater Anbieter zu Barrierefreiheit, die Umsetzung des Aktionsplans für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen, die Konkretisierung der Fortführung der Bundesinitiative Barrierefreiheit, Ansätze zur Bekämpfung von Altersarmut im Kontext Behinderung und Geschlecht, Konzepte zur De-Institutionalisierung, Änderungen im § 218 und einiges mehr. Vor allem vermissen wir eine durchgängige Berücksichtigung der Intersektionalität.
Weibernetz wird sich weiterhin stark machen für eine menschenrechtsbasierte, intersektionale und barrierefreie Gesellschaft. Wir sind bereit für die Legislaturperiode und freuen uns auf Gespräche, zukunftsorientierte geschlechtergerechte Lösungen und gemeinsames konstruktives Streiten!
Zusammengefasst ist für Frauen und queere Menschen mit Beeinträchtigungen insbesondere Folgendes relevant im Koalitionsvertrag:
Die Istanbul Konvention und die EU-Gewaltschutzrichtlinie sollen umgesetzt werden. Dabei wird die Umsetzung des Gewalthilfegesetzes begleitet. Die Gewaltschutzstrategie wird als Nationaler Aktionsplan fortentwickelt und um weitere Schutzmaßnahmen für betroffene Frauen im Bereich Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit verstärkt. Ebenso soll die Koordinierungsstelle Geschlechtsspezifische Gewalt in ihrer Arbeit gestärkt werden. Weiterhin soll es Betroffenen ermöglicht werden, Spuren ohne Strafanzeige auch anonym zu sichern.
Gewaltkriminalität soll bekämpft und insbesondere Frauen besser geschützt werden. Der strafrechtliche Schutz von Frauen und besonders verletzlichen Personen wie Kindern, gebrechlichen Menschen und Menschen mit Behinderung wird durch ein neues Qualifikationsmerkmal bei den Tatbeständen von Mord eingeführt und für weitere Tatbestände wie gefährliche Körperverletzung und schwerer Raub wird diese Erweiterung noch geprüft. Der Tatbestand der Nachstellung wird verschärft und für den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz werden bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen in ebendiesem geschaffen, welche sich in der Anordnung einer elektronischen Fußfessel nach dem spanischen Modell und verpflichtenden Anti-Gewalt-Trainings für Täter*innen wiederspiegeln.
Weitere Vorhaben finden sich in einer Erhöhung des Strafrahmens für Gruppenvergewaltigungen, insbesondere bei gemeinschaftlicher Tatbegehung, Vergewaltigung und Herbeiführung einer Schwangerschaft.
Zur Prüfung stehen weitere strafrechtliche Vorhaben zur Bekämpfung der angestiegenen Gewaltkriminalität durch gefährliche Körperverletzungen durch Waffengebrauch oder ähnlichen Taten und zur Schließung von Strafbarkeitslücken bei offensichtlich unerwünschten und erheblich verbal und nicht-körperlichen sexuellen Belästigungen.
Erstmalig aufgeführt sind Vorhaben zur Einführung eines digitalen Gewaltschutzgesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung Betroffener, welche mit einer Sperrung (anonymer) Hass-Accounts durch strafbare Inhalte einhergehen. Ob die Anonymität der Betroffenen in einem Strafverfahren gewährleistet werden kann, steht zurzeit noch aus.
Sämtliche Vorhaben im Bereich Gewaltschutz und Gewalthilfe sind lediglich einzelne Maßnahmen und lassen ein strategisches Vorgehen zur Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt nicht erkennen. Zum Beispiel bleibt eine Verknüpfung der UN-BRK mit der Istanbul-Konvention weiterhin aus. Der verpflichtende Ausbau barrierefreier Zugänge zu Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern durch eine Verankerung im Gewalthilfegesetz wurde ebenfalls nicht berücksichtigt.
Zudem muss die Verpflichtung zu Anti-Gewalt-Trainings konsequent auch für Täter*innen in Einrichtungen gelten, ebenso muss es im Gewaltschutzgesetz dringend Konkretisierungen für Näherungsverbote, polizeiliche Wegweisung und vorläufige Wohnungsüberlassung in Wohneinrichtungen geben.
Der Staat verpflichtet sich weiterhin, queeres Leben vor Diskriminierung zu schützen. Es soll selbstverständlich sein, gleichberechtigt und diskriminierungs- wie auch gewaltfrei leben zu können. Dafür sollen bewusstseinsschaffende Maßnahmen initiiert werden, die den Zusammenhalt und das Miteinander stärken sollen. Gegen Rassismus soll der Nationale Aktionsplan neu aufgelegt werden.
Präventionsangebote sollen verstärkt vulnerable Gruppen in den Blick nehmen, besonders im Bereich Einsamkeit dessen Auswirkungen und der Umgang damit wird fokussiert. Dafür sollen Hürden zugunsten des Datenaustausches im Rahmen des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes beseitigt werden.
Im Bereich Gleichstellung wird angestrebt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt und respektvoll miteinander leben – im Beruf, in der Familie und in der Politik.
Bis 2030 sollen Frauen und Männer den gleichen Lohn haben, dazu wird die Transparenzrichtlinie auf EU-Ebene in nationales Recht umgesetzt. Die Gleichstellungsstrategie wird fortgeführt. Dabei fokussiert die Bundesregierung weiterhin eine interministerielle Kooperation und möchte diese optimieren. Vor allem in der Politik und in Führungspositionen sind Frauen weiterhin unterrepräsentiert, dem soll durch Teilzeitmodelle und gesetzlichen Vorgaben gegen Verstöße vorgegebener Zielgrößen entgegengewirkt werden.
Strukturelle Benachteiligungen für Frauen im Alltag sollen beseitigt werden und unbezahlte Care-Arbeit soll fairer verteilt werden. In Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien, in Politik und Parlamenten sollen Frauen gleichberechtigt teilhaben.
Im Bereich der Gesundheitsversorgung gibt es gute und lückenhafte Ansätze.
Wir begrüßen die geplante geschlechts- und diversitätssensible Ausrichtung der Medizinischen Versorgung, Behandlung und Forschung, welche queere Menschen in dessen Ausführung miteinbezieht. Besondere Bedürfnisse in unterschiedlichen Lebensabschnitten, spezifische Krankheitsbilder wie Endometriose oder Krebs sollen künftig berücksichtigt werden.
Die Grundversorgung in der Gynäkologie, Geburtshilfe und Hebammenversorgung soll zwar flächendeckend gesichert werden, aber auch hier bleibt ein Ausbau bestehender Strukturen zur besseren Versorgung unverbindlich.
Generell soll das Gesundheitswesen und die Pflegeversorgung barrierefrei und inklusiv weiterentwickelt werden. – Der Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen wurde im Koalitionsvertrag nicht mit aufgenommen. Weibernetz setzt sich weiterhin dafür ein, dass der im Dezember 2024 vorgelegte Aktionsplan umgesetzt werden muss und nicht in einer Schublade verschwindet.
Die aktuell desolate Gesundheitsversorgung von Menschen, insbesondere Frauen mit Beeinträchtigungen muss sich dringend verbessern, damit geltende Menschenrechtsverträge auch tatsächlich eingehalten werden.
Schwangerschaftsabbrüche sollen sicher und wohnortnah für jede Frau zugänglich sein. Dafür wird die Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen über die aktuelle Regelung hinaus erweitert. Medizinische Weiterbildung soll gestärkt werden.
Verhütungsmittel könnten bis zum 24. Lebensjahr kostenlos zur Verfügung stehen, dieses Vorhaben soll geprüft werden.
Aktuell besteht der Status Quo im Bereich Schwangerschaftsabbrüche oder Kostenübernahme von Verhütungsmitteln, die Regierung trifft keine konkreten Aussagen im Vertrag. Die Vorschläge der in der letzten Legislaturperiode eingesetzten Kommission zur Prüfung einer außerstrafrechtlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen, bleiben unbeachtet.
Eine inklusive Gesellschaft im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention mit dem Recht auf volle wirksame, gleichberechtigte Teilhabe; Barrierefreiheit im privaten sowie öffentlichen Bereich. Soll heißen, Barrierefreiheit soll verbessert werden, öffentlich zugängliche Bauten des Bundes werden bis 2035 barrierefrei gestaltet und in der Privatwirtschaft wird auf Barrierefreiheit hingewirkt – Die Verpflichtung privater Anbieter zur Barrierefreiheit für Produkte und Dienstleistungen steht weiterhin aus. Für Leichte Sprache und Gebärdensprache wird ein Bundeskompetenzzentrum aufgebaut.
Zumindest soll jedoch das vorhandene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) reformiert und der Diskriminierungsschutz gestärkt und verbessert werden. Außerdem ist die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes weiterhin sicher.
Allerdings bleibt eine strategische Ausrichtung des AGG in Ergänzung mit dem BGG und dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz weiterhin aus. Das Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen spielt sich nicht nur in öffentlichen Bauten des Bundes ab. Für die Gewährleistung echter Demokratie und Partizipation für eine diskriminierungsfreie Lebensgestaltung, ist die Verpflichtung zur Barrierefreiheit in allen öffentlichen und privaten Sektoren obligatorisch.
Werkstätten für Menschen mit Behinderung bleiben erhalten und sollen reformiert werden; zukünftig soll der Wechsel auf den 1. Arbeitsmarkt leichter fallen. Das Werkstättenentgelt soll verbessert werden und Mittel aus der Ausgleichsabgabe fließen zukünftig wieder in die Förderung von Werkstätten und Wohnheimen. Zudem soll der Gewaltschutz in der Behindertenhilfe gestärkt werden. – Interessant ist nun, dass von einer von vielen Menschenrechtsverbänden geforderten De-Institutionalisierung keine Rede mehr ist. Stattdessen wird die Ausgleichsabgabe nun zum Erhalt dieser Strukturen verwendet.
April 2025
Beatrice Gómez und Martina Puschke